Als Empath in einer dissoziierten Familie


Fast mein gesamtes Erwachsenenleben habe ich mich nach Familientreffen irgendwie total fertig gefühlt. Jedes mal wenn ich wieder nach Hause kam, hatte ich das Gefühl, mit mir stimmt etwas nicht. Ich habe mich schwach und irgendwie gebrochen gefühlt, als könnte ich den Anforderungen des Lebens einfach nicht gerecht werden. Und es hat lange gedauert, bis ich dieses Muster verstanden und letztendlich gelöst habe.

Zu Anfang dachte ich, ich bin einfach nur zu empfindlich für ihre Energien und dass es mir gut gehen würde, wenn ich mich nur ausreichend schütze. Also habe ich mit verschiedensten energetischen Schutztechniken experimentiert wenn ich mich mit Familienmitgliedern getroffen habe. Und zu einem gewissen Grad hat das auch wirklich geholfen! Doch egal wie sehr ich mich auf diese Begegnungen vorbereitet und mich geschützt habe, brauchte ich doch immer noch Erholung hinterher, etwas Zeit um mich wieder wie mein wahres Ich zu fühlen. Nur nach und nach habe ich Dynamik dahinter wirklich durchschaut und so ändern können.



Das empathische Kind

Wie sicher viele, die das hier lesen, bin ich als sehr empathisches und sensibles Kind unter Menschen aufgewachsen, die in keinem guten Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen standen. Schon als kleines Mädchen habe ich all ihre Gefühle wahrgenommen, während sie selbst wie betäubt dafür waren. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit den widersprüchlichen Signalen umgehen sollte, die ich dadurch von ihnen erhalten hatte – das eine gesagt zu bekommen, doch auf der Gefühlsebene etwas ganz anderes wahrzunehmen. Und ich habe auch nicht begriffen, warum sie sich selbst und auch sich gegenseitig immer wieder so verletzten, indem sie so taten als wäre alles in Ordnung, obwohl da doch ein so großer Schmerz war.

Die emotionale Vernachlässigung, die so normal für den Rest meiner Familie schien, war für mich kaum auszuhalten und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ein Großteil der Interaktion, der für die anderen Familienmitglieder „normal“ war, war für mich schmerzhaft. Und ich konnte das nicht so einfach ignorieren. Doch jedes Mal wenn ich eine Reaktion gezeigt habe (eigentlich jedes Mal, wenn ich irgendeine negative oder intensive Emotion gezeigt habe), wurde mir gesagt, dass ich zu empfindlich sei und überreagiere. Wie ich mich gefühlt habe, war niemals gerechtfertigt, denn keiner meiner Familienmitglieder konnte meine tiefen Emotionen nachvollziehen. Sie waren zu sehr von ihren eigenen Gefühlen getrennt, um sie zu spüren. Während ich also all ihren Schmerz wahrgenommen habe und damit völlig überfordert war, schien es ihnen immer gut zu gehen und sie kamen scheinbar viel besser mit den Dingen des Alltags zurecht als ich.



Das schwarze Schaf

Je älter ich wurde, umso mehr wurden mir die ungesunden Muster in meiner Familie bewusst. Ich wollte helfen, unser Familienleben besser zu gestalten. Also habe ich angefangen, die anderen auf diese Dinge aufmerksam zu machen, so dass wir gemeinsam neue Wege finden konnten. Doch indem ich das getan habe, habe ich ihre sonst so gut funktionierenden Schutzmechanismen durchbrochen und sie mit Themen konfrontiert, die sie nicht bereit waren anzusehen. Und so habe ich meist nur negative Reaktionen erfahren und ihre Wut auf mich gezogen. Oft wurde ich beschuldigt, nur nach Aufmerksamkeit zu heischen, indem ich Ärger verursache – wo doch eigentlich alles in bester Ordnung ist. In dem Versuch meine Sichtweise zu erklären, habe ich dann nur noch mehr Ärger verursacht und das Missverständnis verstärkt, denn ich redete über Dinge, die es in ihrer Realität einfach nicht gab: ein tiefes, umfassendes Empfinden und eine feine Wahrnehmung. Immer wenn ich versucht habe, meine Perspektive mit ihnen zu teilen, erschien ich ihnen einfach nur völlig irrational.

Da alle um mich herum derselben Meinung waren und alle immer wieder bestätigten, dass alles in bester Ordnung ist, ich nur zu empfindlich und eben etwas kompliziert sei, habe ich irgendwann angefangen, mich selbst auch so zu sehen. Ich habe mich als überempfindlich und schwach gesehen und begonnen zu glauben, dass etwas mit mir nicht in Ordnung ist.



In eine andere Realität eintauchen

Im Laufe der Jahre habe ich zahlreiche Methoden gefunden die mir halfen, mit meiner Sensibilität umzugehen. Außerdem habe ich immer mehr Menschen kennengelernt, die die Welt genauso wahrnehmen wie ich. So habe ich gelernt, dass ich richtig bin, so wie ich bin, und ich einfach nur eine andere Wahrnehmung habe als meine Familie. Ich habe an Selbstbewusstsein gewonnen und bin mehr und mehr in meine Kraft gekommen. Nur in den Begegnungen mit Familienmitgliedern ist dieses Selbstbewusstsein meist wieder verschwunden und ich fühlte mich plötzlich wieder unfähig und schwach.

Schließlich fand ich heraus, dass es nicht die negative Energie meiner Familie war, die mich herunterzog – wie ich so viele Jahre lang dachte. Vielmehr waren es die alten Muster wie wir miteinander umgingen, die das an sich längst überholte Selbstbild der zu Schwachen und Überempfindlichen immer wieder hoch geholt hatten. Es waren Kleinigkeiten wie das versteckte Mitleid in der Stimme meiner Muter, wenn ich von Problemen auf Arbeit berichtete, das ihren Zweifel daran zeigte, ob mich die Situation nicht überfordere. Oder die ausgesprochen sachliche Art meines Bruders zu reden, die immer wieder suggerierte, dass meine Perspektive irrational und meine Gefühle übertrieben sind. Für mich war jedes Treffen wie das Betreten einer parallelen Realität, in der Emotionen so wie ich sie kenne nicht existieren und wo es eigenartig ist, sich mit so etwas auseinanderzusetzen. Und mit dem Betreten ihrer Realität habe ich unbewusst wieder ihre Sichtweise angenommen: die des überempfindlichen und seltsamen Kindes.



Befreiung

Dieses Muster in der Tiefe zu durchschauen und zu überwinden, war ein wichtiger Befreiungsschlag. Ich muss da nicht mehr mitspielen. Nachdem ich so viel über Verdrängung und Verleugnung gelernt habe, ist mir auch klar, dass ich nie die Schwache war. Ich war lediglich die Einzige, die hinter den Schleier der Verdrängung geschaut hat. Und meine Perspektive war einfach zu schmerzhaft für sie, sie hat zu viele ihrer Schatten ans Licht gebracht. Ich konnte die Gefühle wahrnehmen und ertragen, die sie aus Überforderung in ihr Unterbewusstsein verlagert hatten.

Nun weiß ich, dass meine Fähigkeit und Bereitschaft tief zu fühlen meine größte Stärke ist. Sie hilft mir, mir selbst treu zu bleiben, wenn andere sich verlieren. Diese starke Verbindung zu meinem Inneren hat mir ein authentischeres Leben gebracht, größere Freude und eine tiefere Verbundenheit zu meinen Mitmenschen, als es ohne diese Sensibilität jemals möglich gewesen wäre. Und ich bin unendlich dankbar dafür.