Dieses Jahr war das zweite Mal, dass ich Weihnachten nicht mit meiner Familie verbracht habe. Um genau zu sein, war ich über die Feiertage allein. Und obwohl ich es die meiste Zeit über genossen habe, kamen auch jede Menge Scham- und Schuldgefühle bei mir hoch. Scham und Schuld darüber, dass ich schon so lange keinen Kontakt mehr zu meiner Familie habe. Und darüber, dass ich mich nicht genug darum bemüht habe, einen Weg zu finden, wie wir die Feiertage gemeinsam verbringen können. Und mich stattdessen dafür entschieden habe zu gehen, obwohl mir klar war, dass sie darunter leiden würden.
Überall nur Enten
Vor vielen Jahren las ich ein Buch, in dem das Märchen vom hässlichen Entlein aus einer neuen Perspektive erzählt wurde. Das hat mein Leben wirklich verändert, denn es hat mir endlich bewusst gemacht, warum ich so sehr unter einem Leben litt, das für alle anderen in Ordnung war.
„Das hässliche Entlein“ erzählt von einem Schwanenküken, das in einer Entenfamilie aufwächst. Und niemand weiß, dass es sich bei dem kleinen Schwan nicht um ein Entlein handelt; nicht einmal das Küken selbst. Es verbringt seine Kindheit damit zu glauben, dass es ein Entlein ist. Alles was es kennt ist, wie Enten die Welt wahrnehmen und wie sie leben. Doch das fühlte sich nicht richtig an für das Küken. Es versucht so sehr sich anzupassen und gab sich selbst die Schuld, dass er nicht wie die anderen sein konnte. Seine Umgebung zeigt ihm immer wieder nur auf, wie ungenügend es doch als Entlein war. Erst durch eine lange Reise fand das Küken heraus, wer es wirklich war und dass all seine vermeintlichen Fehler nur die Eigenschaften seines wahren Selbstes waren – die eines schönen weißen Schwanes.
Du kannst deine wahre Natur nicht verleugnen
Ich habe diese Version des Märchens in einem Buch über weibliche Archetypen gelesen, als ich etwa 17 Jahre alt war. Und es hat mich wirklich beeindruckt. Ich wusste sofort, dass dies mein Leben war, meine Geschichte. Allerdings fühlte ich mich nicht wie ein Schwanenjunges unter Enten. Ich fühlte mich eher wie ein Kaninchen unter Hühnern oder wie ein Sperling unter Kühen. So groß war für mich der Unterschied zwischen mir und meiner Familie und Umgebung. Und doch hat es niemand bemerkt. Das einzige, was je bei mir ankam war, dass ich eine Ente mit ziemlich seltsamen Vorstellungen sei.
Nachdem ich zu Hause ausgezogen war, wurde es zunächst noch intensiver. Ich fühlte mich, als wäre ich so anders als alle meine Familienmitglieder, dass ich mich selbst verleugnen muss, um überhaupt in ihrer Nähe sein zu können. Dass ich anders denken und reden muss, um überhaupt ein Gespräch zu ermöglichen. Ich fühlte mich so fehl am Platz, dass es mich unglaublich viel Energie kostete, Zeit mit ihnen zu verbringen. Wie ein Schwein, das gezwungen ist, Tiefseetauchen zu gehen, um seine Adoptivfamilie zu besuchen. Es funktioniert und kann sogar für kurze Zeit schön sein… aber eben nur so lange, wie das Schwein den Atem anhalten kann.
Die Transformation
Ich habe viele Jahre damit verbracht, mich ihnen zu erklären und einen Weg zu finden mit ihnen in Kontakt zu sein, ohne mich selbst zu verleugnen. Aber es ist mir nicht gelungen. Die Wahrheit darüber wer ich bin und wie ich das Leben sehe, ist so weit von ihrer Realität entfernt, dass ich es nicht geschafft habe, einen gesunden Mittelweg zu finden. Ich litt weiterhin darunter und gab mir gleichzeitig die Schuld, dass ich nicht in der Lage war, mich anzupassen oder eine alternative Lösung zu finden. Letztendlich wurde es so schlimm, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Ich erkannte, dass ich untergehen würde, wenn ich nicht endlich mein wahres Selbst voll ausdrücken kann. Deshalb habe ich den Kontakt zu meinen Familienmitgliedern abgebrochen. Es war nie meine Absicht, dass dieser Zustand ewig anhalten sollte. Aber solange ich dabei bin, mein Leben in das eines Schwanes zu transformieren, muss ich mich von den Enten fernhalten. Ich brauche diese Freiheit, um mehr von den Möglichkeiten eines Lebens außerhalb der Entenfarm zu erfahren. Und so lange kann ich nicht unter Menschen sein, die nicht in der Lage sind, etwas anderes in mir zu sehen als ein Entlein.
Manchmal müssen wir wirklich leer werden und unsere alte Persönlichkeit vollständig abstreifen, um als eine neue, authentischere Version von uns Selbst wieder auferstehen zu können. Und genau darum ging es bei mir in der vergangenen Zeit.
Die Freude und der Schmerz des vergangenen Weihnachtsfestes sind in dieser Geschichte vereint. Dieses Jahr wurde ich nicht mehr wie ein Entlein behandelt. Ich verbrachte die Feiertage damit, meine eigene Wahrheit zu ehren und zu leben. Doch ich sehne mich auch danach, diese Zeit mit anderen wie mir zu verbringen. Obwohl ich in den vergangenen Jahren schon viele Gleichgesinnte getroffen habe, leben die meisten von ihnen weit weg, in einem anderen Land oder sogar auf einem anderen Kontinent. Doch es tut gut zu wissen, dass es sie gibt. Und tief im Inneren weiß ich, dass sich mein Leben weiter verändern wird und dass sie und andere bald ganz real da sein werden. Und ich weiß, es wird eine Zeit geben, in der mein Schwanenleben stabil genug ist, um wieder Kontakt mit meiner Entenfamilie aufzunehmen.
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